Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1953, 1961
Aus: Die Gedichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2001
Audioproduktion: Hermann Hesse – Über das Glück. Briefe, Gedichte und Prosa. Gelesen von Hermann Hesse und Gert Westphal. Zusammengestellt von Volker Michels. Der Hörverlag, München 1995/2008

Das Gedicht
Stufen ist der Titel eines der bekanntesten philosophischen Gedichte von Hermann Hesse. Er schrieb das Gedicht am 4. Mai 1941[1] nach langer Krankheit; es trug ursprünglich den Titel „Transzendieren!“.[2] In Stufen beschreibt Hesse das Leben als fortwährenden Prozess, bei dem auf jeden „durchschrittenen“ Lebensabschnitt (Raum, Stufe) ein neuer Lebensabschnitt folgt.
Inhalt
Jede Lebensstufe, Tugend und Weisheit ist zeitlich begrenzt und blüht zu ihrer jeweiligen Zeit. Der Mensch soll sich also bei jedem Ruf des Lebens mit Tapfer- und Heiterkeit sowie ohne Trauer von seinem alten Lebensstadium verabschieden und einen Neubeginn wagen. Er soll sich außerdem an keiner der Lebensstufen festhalten, da der „Weltgeist“ für ihn keine Einengung, sondern eine Ausweitung von Stufe zu Stufe vorsieht. Hat man auf einer Stufe Heimat gefunden, so droht man in eine Erschlaffung und Lähmung zu geraten. Dieser Stufenprozess ist nicht zwangsläufig schon mit dem Tod abgeschlossen, weil das Leben fortwährend ruft. Somit soll der Mensch den Tod als Genesung betrachten, denn letztlich ist auch er nur der Abschied von einer Lebensstufe.

Heilige Boom van Siddhartha te Lumbini (met HG)
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